Letzte Woche bekam ich bei der Abrechnung mit einem Reisebüro in Laem Ngob, die mir auch immer Gäste schicken, einen Flyer in die Hände: „Tum führt Sie durch den Urwald! – Entdecken Sie die wunderschöne und vielfältige Flora und Fauna von Koh Chang. Machen Sie Bilder von seltenen Vögeln und Insekten!“
Ich nehme gleich mehrere Exemplare der einseitig, in schwarz/weiss gedruckten Broschüre mit und denke so bei mir, dass das sicherlich für den einen oder anderen meiner Gäste interessant sein könnte. Mir kommen da Sven, Olaf und Markus in den Sinn, die im Januar bei uns waren. Drei junge Leute, die auf eigene Faust halb Thailand entdeckt haben. Bei einer solchen Tour wären sie mit Sicherheit mit dabei gewesen.
Da sitzen wir nun im Restaurant des Top Resort in einer lustigen Runde zusammen, essen die vorzüglich zubereiteten Speisen und trinken eiskaltes Chang Bier. Es hat heute ziemlich viel geregnet und Erich und seine Frau Gabi sind gar nicht so glücklich, haben die Nachrichten für morgen auch wieder eine starke Bewölkung mit zeitweise heftigen Schauern versprochen. Was also tun an einem solchen Tag? Mein Standardspruch: „ Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsch gekleidete Menschen!“ hat heute auch nicht den gewünschten, auflockernden, erheiternden Effekt. Eher das Gegenteil, was für mich dann, im Nachhinein gesehen, der Auslöser war, den Prospekt mit Tum hervorzuholen und diesen Dschungeltrip anzubieten. Jörg, ein 28 Jahre alter Norddeutscher und seine 25 Jahre junge, hübsche Thaifrau Däng sind sofort Feuer und Flamme. Endlich mal ein aufregendes Erlebnis. Ich hätte nie gedacht, dass sich eine Thai zu einer Dschungeltour hinreißen lässt. Elsbeth und Peter, ein knapp an die 40 Jahre altes, aus England kommendes Pärchen,schauen auch recht interessiert. Also was soll’s, ich hole mein Handy, was ich natürlich mal wieder nicht bei mir, sondern an der Rezeption liegen lassen habe und rufe die auf dem Flyer angegebene Nummer an. Und wie der Teufel so manchmal seine Hände im Spiel hat, wird auch schon nach dem zweiten Klingelzeichen abgenommen. Ich stelle mich kurz vor und erkläre Tum, der auch ein ganz passables Englisch spricht, dass ich hier Gäste habe, die gerne eine von ihm durch den Regenwald geführte Tour machen möchten. Da es ja erst 19:00 Uhr ist, kann ich ihn mit einem großen Chang Bier ködern, und tatsächlich kommt er 15 Minuten später auch schon angefahren.
Er sieht genau so aus, wie er sich auf dem Flyer hat ablichten lassen: Ca. Fünfunddreißig Jahre alt, schlank, mittlere Größe und ein schwarzer Schnurrbart im Gesicht. Diese modernen gefleckten Armeeklamotten tragend, ist er uns sofort sympathisch. Der Einfachheit halber spreche ich mit ihm in seiner Muttersprache und erkläre ihm, dass diese sechs Leute gerne eine Dschungeltour bei ihm buchen würden und ob er für den morgigen Tag schon etwas geplant habe. Skeptisch schaut er in die Runde, sehen doch Erich, Gabi und auch meine Wenigkeit, nicht gerade besonders sportlich aus. „ Don’t look at me,“ sage ich zu ihm, „I will not go with you, I am the owner of this hotel, and I will stay here and take care of my guests.” Sofort ein lauter Protest von meinen anwesenden Gästen. “Nein, im Ernst Leute, das ist für mich viel zu anstrengend, ausserdem bin ich hier nicht im Urlaub!“ Aber ich kann sagen was ich will, alle verlangen, dass ich meinen inneren Schweinehund besiege. Ich erzähle immer nur, dass ich mein Gewicht reduzieren will, bloß tun will ich dafür nichts!
Also sage ich zu, und wir verabreden uns mit Tum für den nächsten Morgen um 6:30 Uhr, um im Westen, am Klong Plu Wasserfall vorbei, den Berg zu überqueren und am Than Mayom Wasserfall auf der Ostseite der Insel wieder herabzuklettern. Da ich allmorgendlich meine Tochter Alisa bereits um 5:15 Uhr wecken muss, ihr Schulbus holt sie bereits um 5:40 Uhr hier vom Top Resort ab, verabrede ich mich mit Ning, dem guten Geist unseres Hotels, bereits um 6:00 Uhr, da das Frühstück und das Zubereiten der Marschverpflegung natürlich bei mir hängen geblieben ist. Kurz nach 6:00 Uhr tauchen Erich und Gabi an der Rezeption auf. Kaffee wird verlangt. Zwei Minuten später sind Peter und Elsbeth da. Wie es sich für Engländer gehört, verlangen sie Tee. Nach weiteren 10 Minuten schicke ich Ning zum Bungalow von Jörg und Däng, da ich von den beiden noch nichts gesehen habe. Ich liege mit meinem Gespür wieder goldrichtig. Natürlich sind die beiden jungen Leute gestern Nacht noch in die Sabay Bar gegangen und haben abgerockt! Tja, nur 3 Stunden Schlaf, das kann ja heute was werden. Dankbar für den Weckdienst, tauchen beide eine Viertelstunde später an der Rezeption auf. Schnell noch einen Schluck Kaffee, denn da wartet Tum schon, der stilvoll mit einem Landrover vorgefahren kommt. Wir werden bis an die Rangerstation am Klong Plu Wasserfall gefahren. Es wird verabredet, dass der Landrover in 6 Stunden auf der Ostseite der Insel am Than Mayom Wasserfall auf uns warten soll. Tum bittet uns leise zu sein, da die Ranger, die so früh morgens noch schlafen, eine Inselüberquerung nicht so gerne sehen. Ich weiss aber, dass das nicht der eigentliche Grund ist. Tum will die 1200 Baht Eintrittsgeld für das Betreten des Nationalparks sparen, die er im Tourpreis von 500 Baht pro Person mit eingeplant hatte. Clever die Thais. Seine Rechnung geht auch auf.
Unbemerkt betreten wir den Trampelpfad, der entlang dem rauschenden Urwaldfluss den Berg hinauf führt. Durch die starken Regenfälle der letzten Tage ist der Pfad teilweise überflutet, und unsere Trekkingschuhe nach wenigen Minuten bereits durchweicht. Ich ärgere mich, dass ich nicht wie immer mit meinen Badelatschen die Tour hier hoch mache. Kurz vor Erreichen des wunderschönen Wasserfalls mit dem riesigen Schwimmbecken steht rechts ein „Betreten — Verboten – Schild“, das von Tum ignoriert wird und an dem wir uns alle vorbei schleichen. Ich frage bei Tum nach, warum denn überhaupt ein Schild aufgestellt wurde, wenn wir es ja doch ignorieren. Tum sagt, es soll die Touristen von einer Inselüberquerung auf eigene Faust abhalten. Es sind schon einige Leute nicht mehr zurückgekehrt. Jetzt wird mir aber doch recht mulmig. „Hoffentlich finden wir keine Leichen im Dschungel.“ Lachend winkt Tum ab. Der Aufstieg bis hierher ist für mich nichts besonderes, gehe ich doch mindestens einmal jede Woche bis hierher, um mich in dem kühlen Nass des Wasserfalls zu erfrischen. Erich und Gabi sehen nicht mehr ganz so frisch aus. Kettenraucher!
Ich kann mir die Bemerkung nicht verkneifen, dass es ohne den blauen Qualm bestimmt einfacher wäre. Ich hab gut Lachen, rauche ich doch seit Oktober 2003 nicht mehr, wodurch sich meine Ausdauer erheblich verbessert hat. Jetzt befinden wir uns schon oberhalb des Wasserfalls. Wir laufen und klettern direkt am Flussbett entlang.Von einem Trampelpfad kann nicht mehr die Rede sein und ich bin jetzt doch froh, meine Trekkingschuhe anzuhaben. Fünfzig Meter vor uns in den Bäumen sehen wir eine Horde Affen. Es sind bestimmt an die 20 Tiere, die in den Baumwipfeln hintereinander herjagen und Einkriegen spielen. Bis wir unsere Fotoapparate einsatzbereit haben, sind sie jedoch in den dichten Urwald verschwunden. Nach einigen Metern ein Aufschrei von Elsbeth. Sie hat mitten im Fluss eine Königskobra, auf einem großen Felsen liegend, entdeckt. Träge bemerkt die mindestens 3 Meter lange Schlange unser Kommen und gleitet ins Wasser ab. Mir wird schlecht. Hier wird mir erstmals bewusst, dass Schlangen schwimmen können. Ich glaube, ich werde nie wieder so unbedarft im Bassin des Wasserfalls schwimmen gehen. Wir sind jetzt ca. zwei Kilometer gewandert, vor uns liegt wieder ein Wasserfall, nicht so schön wie der erste, der ja aus 25 Metern Höhe hinab fällt, trotzdem sieht er mit seinen drei Metern Gefälle sehr imposant aus. Wir sind jetzt schon fast zwei Stunden unterwegs und Tum bietet uns an, hier eine Pause zu machen, um im Becken des Wasserfalls baden zu gehen. Nach fast einer Stunde Aufenthalt ziehen wir uns wieder an, schnallen unsere Rucksäcke um und marschieren weiter am Rande des Flusses entlang. Inzwischen ist es sehr stürmisch, Tum sagt uns einen Regenschauer voraus. Kaum ausgesprochen, geht es auch schon los. Es gießt, als ob jemand kübelweise Wasser auf uns herab schüttet, da waren wir beim Baden am Wasserfall trockener. Der Spuk dauert keine zehn Minuten und die Sonne kommt hervor. Der ganze Urwald dampft. Vogelgezwitscher setzt ein. Tierlaute, die nur schwer zu deuten sind, dringen mit einer Lautstärke an unsere Ohren, dass wir willkürlich zusammenzucken. Elsbeth fragt Tum, ob es hier auf der Insel wilde Tiger gibt. Tum verneint lachend, setzt aber sogleich eine beschwörende Miene auf und erzählt von Waranen, Wildschweinen, Rehen, Riesenspinnen, Skorpionen und giftigen Schlangen. Es soll derer über fünfundvierzig verschiedene Arten auf der Insel geben. Mir wir richtig übel, Panik steigt in mir auf. Am liebsten würde ich jetzt umkehren. Tum versichert uns, dass noch niemand hier auf der Insel durch ein Tier zu Tode gekommen ist. Die Strasse aber, die hier in den letzten 25 Jahren als Ringstrasse um die Insel fast komplett fertig gestellt wurde – es fehlen nur noch siebenhundert Meter – hat schon weit über 4000 Menschenleben gekostet. Obwohl mich die Anzahl der Unfallopfer schockiert, hat diese Information auf mich eine beruhigende Wirkung, befinde ich mich ja im Dschungel und nicht auf der Strasse.
Das Flussbett wird jetzt immer schmaler und der Urwald fängt an, über unseren Köpfen zusammen zu wuchern. Ich frage Tum, wo denn eigentlich die Quelle des Flusses ist. Er erklärt mir, dass es die in diesem Sinne nicht gibt, sondern der Ursprung des Flusses sich aus mehreren kleinen, kaum wahrnehmbaren Rinnsalen erschliesst. Wir sind jetzt kurz vor einer Anhöhe und ich habe in den letzten zwei Stunden Fußmarsch nach dem Baden nicht den Eindruck gewonnen, dass hier schon mal eine Menschenseele langgelaufen ist. Es wird immer beschwerlicher, sich den Weg durch das dichte Unterholz zu suchen. Ständig liegen umgestürzte Urwaldriesen herum, die mühevoll überklettert oder umgangen werden müssen. Immer habe ich die Angst im Nacken, dass eine giftige Schlange oder irgend ein anderes Getier unser Kommen nicht bemerkt und jetzt sofort angreift. So langsam aber sicher verliere ich die Orientierung. Wir befinden uns jetzt anscheinend auf einer Ebene, die von unzähligen Mulden durchbrochen ist. Die Sonne, obwohl sie eigentlich scheinen müsste, ist unter dem dichten Laubdach der Urwaldbäume nicht auszumachen. Ich kann nicht sagen, wo der White Sand Beach oder in welcher Richtung sich mein Top Resort befindet.
Mir wird bewusst, dass wir unserem Führer hilflos ausgeliefert sind. Wenn er jetzt im Dickicht verschwindet, sind wir im Urwald hoffnungslos verloren. Warum bin ich Blödmann nicht im Resort geblieben, ich könnte so schön an der Rezeption , airconditioned am PC sitzen und im Internet surfen. Als ob es da nicht genug zu entdecken gäbe! Ich schwitze! Es ist nicht auszuhalten! Von den vier Einliterflaschen Trinkwasser, die jeder mit sich führt, habe ich bereits drei restlos leergetrunken. Ob in Asien das Moos an den Bäumen auch die Richtung Norden bestimmt? Ich will Tum fragen und erkenne mit Schrecken, dass ich der Letzte bin. Alle Anderen befinden sich mindestens dreißig Meter vor mir. Schnell schließe ich auf und bemerke auch schon, dass der Weg jetzt kontinuierlich abwärts geht. Mir fällt ein Stein vom Herzen, ist dies doch das sichere Zeichen, dass wir uns bereits auf der anderen Seite der Indel befinden. So langsam fangen meine Füße stark zu schmerzen an. Dass ich meinen Hüftgelenken mit meinen mehr als vierzig Kilo Übergewicht ein wenig zuviel zutraue, ist auch deutlich zu spüren. Ich frage Tum, wie weit es noch ist. Er erwidert, dass wenn wir am entspringenden Flussbett des Than Mayom Wasserfalls angekommen sind, noch anderthalb Kilometer bergab kraxeln müssen, bevor wir auf besseres Gelände kommen.
Der weitere Abstieg wird für uns Langnasen die reinste Tortur. Der kleinen Däng scheint das alles genausowenig auszumachen, wie unserem Führer Tum. Ich verstehe nicht, woher die beiden Thais ihre Energie hernehmen. Inzwischen kann ich den Erklärungen von Tum nicht mehr folgen. Die schöne Fauna und Flora, die Hinweise auf Blumen, Eidechsen, Schmetterlinge und Spinnen, haben für mich keine Bedeutung mehr. Meinen Fotoapparat habe ich seit dem ersten Wasserfall schon nicht mehr hervorgeholt, weil das wasserdichte Ein- und Auspacken schon lange zu mühsam ist. Auf der Hälfte des letzten Abschnittes muß ich eine Pause machen. Wir sind hier an einer Stelle des Flußbettes, wo ein Schwimmen möglich ist. Obwohl wir die eigentliche Wanderzeit schon längst überschritten haben, es ist bereits 15:30 Uhr, stimmt Tum einer Badepause zu. Ich massiere meine wunden Füße und stelle mit Entsetzen fest, dass ich Blasen an den Fussohlen habe, größer als Zwei- Euro- Stücke. Jetzt, wo ich meine Füße in das kalte Flußwasser tauche, lassen auch endlich die Schmerzen ein klein wenig nach. Nach einer halben Stunde drängelt Tum zum Aufbruch, damit wir den Rest des Weges nicht doch noch im Dunkeln zurücklegen müssen. Die Trekkingschuhe wieder anziehen zu müssen ist die Hölle. Nach weiteren zwei qualvollen Stunden wird das Rauschen des Flußes immer lauter. Ein sicheres Zeichen, dass wir uns kurz vor dem Ende unserer Wanderung befinden. Schon lichtet sich der Dschungel und wir laufen die restlichen dreihundert Meter an Farmland vorbei zur Ringstrasse, an der uns der Landrover abholen soll. Er steht nicht weit vom Rangerhäuschen, an dem, auch auf dieser Seite der Insel, der Eintritt in den Nationalpark bezahlt werden muss. Auch hier ist niemand anzutreffen. Es ist fast 18:00 Uhr, die Ranger haben seit einer Stunde Feierabend. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Tum genau gewusst hat, wie lange wir für die Überquerung der Insel brauchen würden. Als ich um den Jeep herumgehe, um mir eine von den bereitgestellten Wasserflaschen zu holen, bemerke ich, das die Motorhaube des Fahrzeugs eine wahnsinnige Hitze abstrahlt, was für mich ein untrügliches Zeichen dafür ist, das der Wagen gerade erst hier angekommen ist.
Am Top Resort angekommen, entschädigt uns ein traumhaft schöner, blutroter Sonnenuntergang für die Strapazen des Tages. Ich werde wohl erst darüber lachen können, wenn die Blasen an den Füßen wieder weg sind. Noch schmerzt mich jede Bewegung. Bei enem schönen kalten Chang Bier beschließe ich, mich nie wieder zu solch einer Tour überreden zu lassen. Nicht bevor ich mindestens vierzig Kilo weniger Gewicht habe.
mw.