Deutschland: Forderung über Anhebung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre
Mo., 29. Aug. 2022

Berlin — Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie, Stefan Wolf, forderte die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre. Gewerkschaften, Sozialverbände und Linke reagierten wütend, Dietmar Bartsch von der sozialistischen Linkspartei nannte den Vorschlag “unsozialen Schwachsinn”.
Derzeit wird in Deutschland das Renteneintrittsalter für die nach 1967 Geborenen schrittweise von bisher 65 auf 67 Jahre angehoben.
Bereits seit den 1980er Jahren warnen Ökonomen vor dem drohenden Kollaps des deutschen Rentensystems.
Der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) schwor daraufhin 1986: “Die Renten sind sicher”. Aber gilt das auch heute noch?
In Deutschland werden die Renten überwiegend über ein so genanntes Umlageverfahren finanziert, bei dem die Mehrheit der Deutschen — mit Ausnahme von Beamten und Selbstständigen — in die staatliche Rentenkasse einzahlt, aus der die Renten derjenigen finanziert werden, die bereits im Ruhestand sind.
Arbeitnehmer zahlen derzeit etwas mehr als 9 % ihres monatlichen Einkommens in den Fonds ein. Dieser Betrag wird von ihrem Arbeitgeber aufgestockt.
Diese Art von System funktioniert jedoch nur unter der Voraussetzung, dass genügend Erwerbstätige in den staatlichen Rentenfonds einzahlen, um die laufenden Rentenzahlungen zu decken.
Hier wird die Alterung der Bevölkerung zum Problem.
Der amtierende Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat eine Erhöhung des Renteneintrittsalters bereits abgelehnt und die aktuelle Diskussion als “Phantomdebatte” abgetan.
Gemischtes Paket von Vorschlägen
“Die Anhebung des Renteneintrittsalters ist immer eine sehr unpopuläre Maßnahme. Deshalb wird sie von der Politik so weit wie möglich hinausgeschoben. Ich könnte mir aber vorstellen, dass Mitte der 2030er Jahre, wenn wir mitten im demografischen Wandel stecken, etwas passieren wird”, sagt Johannes Rausch vom Munich Center for the Economics of Aging.
Rausch prognostiziert, dass früher oder später — wahrscheinlich später — das Renteneintrittsalter steigen wird, um der steigenden Lebenserwartung Rechnung zu tragen. Auf diese Weise gäbe es immer noch genügend Beitragszahler, um das System für die Rentner zu finanzieren, was bedeutet, dass der Beitragssatz weniger angehoben werden müsste und höhere Renten ausgezahlt werden könnten.
Deutschland wäre nicht der einzige Staat, der eine solche Maßnahme einführt. Die OECD prognostiziert, dass das durchschnittliche Renteneintrittsalter für eine kontinuierlich beschäftigte Person auf 66,1 Jahre für Männer und 65,5 Jahre für Frauen ansteigen wird.
In Ländern, in denen das Renteneintrittsalter bereits an die Lebenserwartung gekoppelt ist, darunter Dänemark, Italien und Estland, zeichnet sich bereits jetzt ab, dass das Renteneintrittsalter deutlich steigen wird.
Johannes Geyer, stellvertretender Leiter des Bereichs Öffentliche Wirtschaft am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, glaubt, dass die quantitative Auswirkung der Anhebung des Renteneintrittsalters nominal sein wird.
"Es ist eine Verteilungsfrage: Wer trägt die Kosten des demografischen Wandels? Die Anhebung des Renteneintrittsalters belastet die arbeitende Bevölkerung stark", sagt Geyer. "Menschen mit niedriger Lebenserwartung und solche mit gesundheitlichen Problemen werden mehr leiden; ein relevanter Teil der Bevölkerung stirbt vor Erreichen des Rentenalters."
Er sieht bessere Lösungsmöglichkeiten an anderer Stelle.
"Wir brauchen Migration. Es ist wichtig, dass wir genügend Menschen aus dem Ausland haben, die in Deutschland arbeiten", sagt Geyer.
"Die Regierung versucht, die Anerkennung ausländischer Qualifikationen in Deutschland zu erleichtern. Auch bei den Regelungen für Asylbewerber und Geduldete gibt es einige Verbesserungen, um ihren Status zu legalisieren und die Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsabschlüssen und Qualifikationen zu erleichtern. Das ist immer noch ein Problem."
Teilzeitbeschäftigte und Langzeitarbeitslose ins Visier nehmen
Auch im Inland gibt es Potenziale, auf die Geyer hinweist: "Wir haben einen großen Bereich von Menschen, die in sogenannten Minijobs, also geringfügiger Beschäftigung, arbeiten, die schlecht bezahlt, aber nicht steuer- und sozialversicherungspflichtig sind. Wenn es uns gelänge, diese Menschen in reguläre Jobs zu bringen, dann würde das auch dem System helfen."
Geyer sieht auch das Potenzial, mehr Arbeitslose in Arbeit zu bringen und diejenigen zu rehabilitieren, die aufgrund von Krankheit auf eine Erwerbsminderungsrente angewiesen sind. Dies betrifft Millionen von Menschen, von denen viele aus verschiedenen Gründen - von gesundheitlichen Problemen bis hin zur Pflege von Familienangehörigen - nicht in der Lage sind, Vollzeit zu arbeiten.
Geyer schlägt vor, dass auch Beamte und Selbständige, die derzeit in separate Rentenkassen einzahlen, in das allgemeine staatliche Rentensystem einbezogen werden könnten.
Und schließlich verweist er auf eine weitere viel gepriesene Lösung: die Verlängerung der Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden.
Doch hier ist Geyer skeptisch. "Ich denke, dass 40 Stunden in vielen Bereichen das Maximum sind, was man den Menschen zumuten kann", sagt er. "Wenn man die Arbeitszeit erhöht, muss man bedenken, dass die Menschen bereits erschöpft sind und die zusätzlichen Stunden diese Erschöpfung noch verstärken und sich negativ auf die Gesundheit auswirken könnten."
Geyer ist der Ansicht, dass die Erwerbstätigen mit einem Anstieg der Beitragssätze zum Rententopf rechnen können. Er prognostiziert einen Anstieg von derzeit 18,6 % auf deutlich über 20 % bis 2025.
"Derzeit haben wir ziemlich niedrige [Renten-]Beitragssätze. Vor zehn Jahren hätte niemand erwartet, dass sie noch unter 19 % liegen würden", sagt Geyer.
"Vor dem Krieg [in der Ukraine] und dem Anstieg der Inflation hätte ich gesagt, wir können es uns leisten, die Beitragssätze zu erhöhen, aber angesichts der hohen Inflation wird das eine ziemlich hitzige Debatte auslösen."
Im Moment mag sich Deutschland noch Zeit lassen, um eine Lösung zu finden. Aber es ist wahrscheinlich, dass der demografische Wandel das Land letztendlich zum Handeln zwingen wird.