Deutschland verzeichnet erstes monatliches Handelsbilanz-Defizit seit 30 Jahren
Di., 05. Juli 2022

Berlin — Zum ersten Mal seit mehr als drei Jahrzehnten hat Deutschland ein monatliches Handelsbilanzdefizit verzeichnet. Dies ist das jüngste Anzeichen dafür, dass Europas größte Volkswirtschaft aufgrund von unterbrochenen Lieferketten und Rekord-Energiepreisen im Zusammenhang mit Russlands Krieg in der Ukraine unter Stress steht.
Die Exporte sind seit Jahren der Wirtschaftsmotor in Deutschland, aber der steile Anstieg der Energiepreise, der durch die Maßnahmen Russlands zur Einschränkung der Erdgaslieferungen nach Europa verursacht wurde, hat die Preise für in Deutschland hergestellte Produkte in die Höhe getrieben.
Die Exporte gingen im Mai gegenüber April um 0,5 Prozent zurück, während die Importe um 2,7 Prozent stiegen, so dass eine Lücke von 1 Milliarde Euro oder etwa 1 Milliarde Dollar entstand, wie das Statistische Bundesamt am Montag mitteilte.
Es war das erste Mal seit 1991, dem Jahr nach der Wiedervereinigung des ehemals sozialistischen Ostdeutschlands mit dem kapitalistischen Westdeutschland, dass die Einfuhren die Ausfuhren übertrafen.
Der plötzliche Umschwung könnte auf eine Schwäche in Teilen der deutschen Wirtschaft hindeuten, wo jeder vierte Arbeitsplatz vom Export abhängt.
Die Abhängigkeit von Energieimporten — vor Kriegsbeginn lieferte Russland mehr als die Hälfte des Erdgases des Landes — hat den Kostendruck auf die deutschen Unternehmen noch verstärkt.
“Der Exportabschwung hat begonnen”, sagte Volker Treier, Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertages.
Er verwies auf die steigenden Kosten für deutsche Waren, die ins Ausland geliefert werden.
“Die Exporteure sind immer weniger in der Lage, die durch die Lieferketten verursachten Kostensteigerungen an die internationalen Kunden weiterzugeben”, sagte er.
Die Vereinigten Staaten blieben im Mai das wichtigste Zielland für deutsche Waren, wobei der Umsatz gegenüber dem Vormonat um mehr als 5 Prozent auf 13,4 Milliarden Euro stieg.
Auf der Importseite blieb China das Land, das die meisten Waren nach Deutschland verkaufte, im Wert von 18 Milliarden Euro im Mai, ein Rückgang von 1,6 Prozent gegenüber April.
Der Rückgang der in Russland verkauften deutschen Waren ist eine der Ursachen für den Rückgang der Ausfuhren.
Jahrelang war Russland ein starker Markt für deutsche Hersteller, aber seit dem Einmarsch in die Ukraine im Februar ist der Trend rückläufig, da die Unternehmen ihre Geschäfte in dem Land eingestellt haben.
Im Vergleich zum Vorjahr sind die Verkäufe nach Russland um mehr als 50 Prozent eingebrochen.
Wirtschaftsexperten warnen, dass sich die gesamtwirtschaftliche Lage noch weiter verschlechtern könnte, wenn Russland beschließt, seine Gaslieferungen vollständig einzustellen. Dieses Risiko hat sich in letzter Zeit erhöht.
Im Juni drosselte der russische Energieriese Gazprom die Gaslieferungen nach Deutschland über die kritische Pipeline Nord Stream 1 um 60 Prozent.
In diesem Monat wird die Pipeline wegen geplanter Wartungsarbeiten für etwa zwei Wochen komplett abgeschaltet, was in Deutschland die Befürchtung aufkommen lässt, dass das Unternehmen die Hähne nach Abschluss der Arbeiten zugedreht lassen könnte.
Die deutsche Regierung hat Notfallpläne für den Fall einer eventuellen Abschaltung aller Gaslieferungen verabschiedet.