Deutschland: Was ist aus den 100-Milliarden Euro für die Bundeswehr geworden?
Mi., 01. März 2023

Berlin — Vor etwas mehr als einem Jahr hielt Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag eine Rede, die wahrscheinlich seine Kanzlerschaft prägen wird — und das nach kaum zwei Monaten Amtszeit.
Die “Zeitenwende”-Rede, eine Reaktion auf den Einmarsch Russlands in der Ukraine, basierte auf der Ankündigung, dass die Bundeswehr einen einmaligen Sonderfonds in Höhe von 100 Milliarden Euro erhalten würde, um aufgerüstet zu werden.
Am 3. Juni schloss sich die Mitte-Rechts-Opposition im Bundestag mit den Regierungsparteien zusammen, um das Grundgesetz zu ändern und die zusätzliche Verschuldung zuzulassen — ein beispielloser Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik.
Seitdem wird die Mitte-Links-Koalition von Scholz von der konservativen Opposition und von Kritikern bedrängt, die behaupten, die Bundeswehr habe von diesem Geldsegen nicht profitiert.
“Die Bundeswehr hat enorme Defizite, und die Zeitenwende hat in ihr noch nicht einmal begonnen”, sagte Roderich Kiesewetter, außenpolitischer Sprecher der CDU, am Montag der Augsburger Allgemeinen.
“Die Bundeswehr hat ein Jahr verloren und steht kahler da als zu Beginn des Jahres 2022.”
Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages und Mitglied der FDP, sagte daraufhin im Deutschlandfunk, dass in den 16 Jahren, in denen die CDU unter Angela Merkel das Verteidigungsministerium innehatte, “überhaupt nichts” für die Modernisierung der Armee getan worden sei.
Dann zählte sie die Errungenschaften der Regierung im vergangenen Jahr auf: neue Bestellungen von F‑35-Kampfjets und schweren Transporthubschraubern aus den Vereinigten Staaten sowie eine neue Digitalisierungsoffensive zur Modernisierung der Streitkräfte.
Nach Angaben des Verteidigungsministeriums sind 30 Milliarden Euro der 100 Milliarden Euro bereits für größere Anschaffungen vorgesehen.
Von den europäischen Verbündeten und innerhalb Deutschlands wurde kritisiert, dass so viele Großaufträge in den Vereinigten Staaten erteilt wurden, obwohl der größte Teil des Sonderfonds wahrscheinlich in Deutschland bleiben wird, das über eine starke Waffenindustrie verfügt.
Außerdem, so Strack-Zimmermann, lassen sich 100 Milliarden Euro nicht einfach in einem Jahr ausgeben.
Die Herstellung anspruchsvoller neuer Ausrüstung braucht Zeit.
Die ersten acht F‑35 sollen zum Beispiel 2026 ausgeliefert werden (sie bleiben zunächst in den USA, während die Bundeswehrpiloten ausgebildet werden), die restlichen 27 bis 2029. Einige Güter, wie z. B. neue digitale Kommunikationsgeräte, werden schneller verfügbar sein, während andere noch länger brauchen werden.
Schwindender Geldhaufen
Die Zeit drängt.
Die wirtschaftlichen Kräfte zehren an den 100 Milliarden Euro.
Rafael Loss, Verteidigungsexperte beim European Council on Foreign Relations (ECFR), erklärte gegenüber der DW, dass ursprünglich nur 8 Milliarden Euro aus dem Sonderfonds für die Zinszahlungen für das von der Regierung aufgenommene Darlehen benötigt würden.
Aufgrund der steigenden Zinssätze ist diese Schätzung nun auf 13 Milliarden Euro gestiegen. Es bleiben also noch 87 Milliarden Euro übrig, die tatsächlich ausgegeben werden müssen.
Hinzu kommen die Inflation, der Dollar-Euro-Wechselkurs und die Mehrwertsteuer, so dass nach Deckung aller zusätzlichen Kosten nur noch etwa 50 bis 70 Milliarden Euro für die eigentliche Hardware übrig bleiben.
"Je länger man dieses Geld irgendwo liegen lässt, desto länger müssen Faktoren wie Inflation und Zinszahlungen diesen Haufen auffressen", so Loss.
Bis zu einem gewissen Grad stimmt Loss zu, dass die Regierung schneller hätte handeln können.
"In gewisser Weise war das letzte Jahr ein verlorenes Jahr für die Bundeswehr", sagte er.
"Aber der neue Verteidigungsminister (Boris Pistorius) scheint darauf zu drängen, dass viele Dinge beschleunigt werden, wie zum Beispiel der Ersatz der Leopard-Panzer."
Boris Pistorius trat sein Amt vor etwas mehr als einem Monat an, nachdem seine Vorgängerin Christine Lambrecht, ebenfalls Sozialdemokratin, zurücktrat, unter anderem wegen einer Welle der Unzufriedenheit mit ihrer Führung, die aus den Reihen der Armee durchsickerte.
Und der neue Minister hat sich für mehr Geld eingesetzt: Diese Woche deutete er an, dass der Sonderfonds nicht ausreicht, um den Bedarf des Militärs zu decken, und forderte eine Aufstockung des Budgets seines Ministeriums um weitere 10 Milliarden Euro.
Einige seiner Kollegen, darunter die Co-Vorsitzende seiner Partei, Saskia Esken, zeigten sich von dieser Idee nicht gerade begeistert.
Eine neue Harmonie
Die offensichtliche Dringlichkeit von Pistorius ist eine Veränderung für das deutsche Militär, das seit vielen Jahren unter Ineffizienz bei der Beschaffung leidet.
Im Jahr 2022 war dies eine bekannte Klage von Hans Christoph Atzpodien, dem Vorsitzenden des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), zu dessen Mitgliedern alle großen deutschen Lieferanten von schwerem Militärgerät gehören, darunter Krauss-Maffei Wegmann, der Hersteller des Leopard 2-Panzers.
Atzpodien hat argumentiert, dass der bürokratische Koloss, der das militärische Beschaffungswesen darstellt, an einem "Perfektionismus" in seinen Vorschriften leidet, der oft dazu führt, dass die Truppen nicht das bekommen, was sie brauchen - als Beispiel nannte er die deutschen Panzerbesatzungen, die nicht die gleichen Funkgeräte wie ihre internationalen Partner haben, obwohl diese ausdrücklich angefordert wurden.
Dieses Manko ist inzwischen behoben worden.
"Ich muss dem Beschaffungsprozess zugutehalten, dass im Dezember 2022 eine Beschaffungsentscheidung für genau diese Ausrüstung getroffen wurde - sogar mit einem deutschen Unternehmen - was wir natürlich begrüßen", sagte er.
Dies ist ein neuer Ton.
Noch im Dezember geriet Atzpodien öffentlich in Streit mit hochrangigen Regierungsvertretern, die der Rüstungsindustrie vorwarfen, sie solle sich stärker um eine Erhöhung der Kapazitäten bemühen.
Jetzt scheinen die beiden Seiten auf einer Wellenlänge zu liegen: "Wir sind sehr zuversichtlich, dass die Aufträge, die im Wesentlichen durch haushaltspolitische bürokratische Prozesse aufgehalten wurden, nun in einem angemessenen Umfang in Angriff genommen werden", sagte er.
Das Beschaffungsökosystem
Loss sagte, die Komplexität des Beschaffungswesens sei nach wie vor ein Problem, für das es keine einfachen Lösungen gebe:
"Es handelt sich um ein sehr komplexes Ökosystem zwischen dem Parlament als Budgetverantwortlichem, dem Verteidigungsministerium, den Beschaffungsagenturen und den Streitkräften".
Nach dem Kalten Krieg habe sich in der Bundeswehr eine Kultur eingebürgert, in der Schnelligkeit keine Priorität habe.
"Es gab eine enorme Risikoscheu, etwas falsch zu machen und vielleicht ein bisschen zu viel Geld für Dinge auszugeben, um sie schneller durch die Beschaffungspipeline zu bekommen", sagte er.
Hinzu kommt, dass die regionalen Interessen der Bundestagsabgeordneten bei Beschaffungsentscheidungen oft eine Rolle spielten - bayerische Politiker drängten zum Beispiel darauf, dass bayerische Luftfahrtunternehmen den Zuschlag erhielten.
"Das führt dazu, dass die Haushaltsprozesse weniger am militärischen Bedarf orientiert sind", so Loss. "In den USA würde man das wohl als pork-barrel politics bezeichnen."
Mit anderen Worten: Scholz' berühmte "Zeitenwende" besteht darin, den kolossalen Tanker, der das deutsche Militär, seine Kultur und seine Bürokratie ist, zu wenden.
Dafür reicht nicht einmal ein Jahr aus.