Deutschland erwägt Verlängerung der Atomkraftwerke
Di., 19. Juli 2022

Berlin — Wie das deutsche Wirtschaftsministerium am Montag mitteilte, erwägt Deutschland, die Laufzeit seiner drei verbleibenden Kernkraftwerke zu verlängern. Dies könnte ein außergewöhnlicher Schritt sein, da sich die Verantwortlichen in Berlin mit der Möglichkeit eines russischen Gaslieferstopps auseinandersetzen.
Die Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke des Landes wäre eine abrupte und höchst umstrittene Abkehr von den Plänen der Regierung, die verbleibenden Anlagen bis Ende 2022 abzuschalten.
Dies würde auch im Widerspruch zu einer im März veröffentlichten Bewertung des deutschen Umwelt- und Wirtschaftsministeriums stehen, die eine Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke ablehnt.
In dieser Bewertung wurden “rechtliche, genehmigungs- und versicherungstechnische Probleme” sowie hohe Wartungskosten als Hauptgründe gegen einen Weiterbetrieb der Anlagen angeführt.
Doch die Befürchtung, dass Russland die Lieferungen über die wichtige Gaspipeline Nord Stream 1, die Anfang des Monats wegen Wartungsarbeiten abgeschaltet wurde, nicht wieder aufnehmen könnte, hat den Befürwortern der Kernenergie in Deutschland neue Nahrung gegeben.
Am Montag erklärte ein Sprecher des deutschen Wirtschafts- und Klimaministeriums gegenüber Reportern, dass die Stromnetzbetreiber im Zuge der aktuellen Energiekrise eine zweite Bewertung angefordert hätten.
“Die Frage der Kernkraftwerke war für die Bundesregierung von Anfang an keine ideologische, sondern eine rein technische Frage, die von Experten geprüft wurde und nun unter verschärften Bedingungen erneut geprüft wird”, so der Sprecher.
Die zweite Prüfung wird strenger sein als die erste und “wird die möglichen Auswirkungen höherer Gaspreise auf die Strompreise, schwerwiegendere Gasversorgungsausfälle und einen Produktionsstopp in französischen Kernkraftwerken berücksichtigen”, heißt es in einem Dokument des Wirtschaftsministeriums, das Reuters vorliegt.
Die Ergebnisse der neuen Bewertung werden in einigen Wochen erwartet.
Die Nachricht von der zweiten Überprüfung kommt, nachdem der Chef der deutschen Energieregulierungsbehörde, Klaus Müller, am Wochenende davor gewarnt hatte, dass die Gasknappheit in Deutschland wahrscheinlich zwei Winter andauern wird. Er verwies auf den Verlust der russischen Gaslieferungen und befürchtete, dass Russland alle Lieferungen über Nord Stream 1 einstellen könnte.
Obwohl die deutschen Erdgasspeicher zu fast 65 % gefüllt sind und damit weitaus besser als in den vergangenen Wochen, sagte Müller, dass diese Menge immer noch nicht ausreichen werde, um den Winter ohne russische Lieferungen zu überstehen.
Deutschland, das etwa 35 % seiner Gaslieferungen von Russland bezieht, hat sich besonders lautstark über die befürchtete Abschaltung von Nord Stream 1 geäußert.
Der deutsche Vizekanzler Robert Habeck bezeichnete kürzlich die Gefahr einer russischen Gassperre als “politisches Alptraumszenario” für Berlin.