Es ist drei Uhr morgens in einem kleinen Dorf in der Provinz Surin. Niran tippt nervös auf ihrem Smartphone herum, während die Familie schläft. Die 19-Jährige starrt auf die Nachrichten ihrer älteren Schwester aus Bangkok: „Das Geld ist unterwegs. Mama kann endlich zum Arzt.“ Seit Monaten wartet die Familie auf diese Unterstützung, doch niemand fragt, woher das Geld wirklich kommt.
Thailands dunkle Wahrheit enthüllt
Niran ist eine von Tausenden jungen Frauen aus dem Nordosten Thailands, dem Isaan, die sich Jahr für Jahr auf den Weg in die Großstädte machen. Was als Hoffnung auf ein besseres Leben beginnt, entwickelt sich oft zu einer Geschichte von Ausbeutung, Abhängigkeit und zerbrochenen Träumen. Ihre Reise führt sie durch verschiedene Stationen: von schlecht bezahlten Jobs über die schillernde Welt der GoGo-Bars bis hin zu einem Leben, das geprägt ist von ständigen Lügen und dem verzweifelten Versuch, die Fassade aufrechtzuerhalten.
Die Geschichte dieser Frauen ist komplex und vielschichtig. Sie handelt von wirtschaftlicher Not, gesellschaftlichen Zwängen, aber auch von menschlicher Stärke und dem Überlebenswillen in einem System, das sie sowohl lockt als auch gefangen hält.
Wurzeln der Armut im Isaan
Der Nordosten Thailands gilt als die ärmste Region des Landes. Hier, wo endlose Reisfelder die Landschaft prägen und die Trockenzeit oft monatelang anhält, leben Millionen von Menschen in prekären Verhältnissen. Die Provinzen Surin, Buriram, Nakhon Ratchasima und andere haben Arbeitslosenquoten, die weit über dem nationalen Durchschnitt liegen.
In den Dörfern des Isaan ist es seit Generationen üblich, dass die jungen Erwachsenen in die Städte ziehen, um Arbeit zu finden. Was früher hauptsächlich Männer in Fabriken oder auf Baustellen führte, betrifft heute zunehmend auch junge Frauen. Der Wandel der thailändischen Wirtschaft und der wachsende Tourismus haben neue Möglichkeiten geschaffen – aber nicht alle sind legal oder ethisch vertretbar.
Familien wie die von Niran leben oft von der Subsistenzlandwirtschaft. Wenn die Ernte schlecht ausfällt oder medizinische Notfälle auftreten, bleibt oft nur der Verkauf von Land oder die Aufnahme von Krediten zu hohen Zinsen. In dieser Situation werden die Töchter zu Hoffnungsträgerinnen. Der gesellschaftliche Druck, die Familie zu unterstützen, ist immens und tief in der thailändischen Kultur verwurzelt.
Der erste Schritt in die Stadt
Die Reise beginnt meist harmlos. Viele junge Frauen finden zunächst Arbeit in Fabriken, Restaurants oder als Hausangestellte. Doch die Löhne sind niedrig – oft zwischen 300 und 500 Baht pro Tag, etwa 8 bis 13 Euro. Nach Abzug der Lebenshaltungskosten in Bangkok oder anderen Großstädten bleibt wenig übrig, um die Familie zu Hause zu unterstützen.
Somchai, eine 28-jährige Frau aus Nakhon Ratchasima, erinnert sich an ihre ersten Monate in Bangkok: „Ich arbeitete zwölf Stunden am Tag in einer Textilfabrik. Nach der Miete für mein winziges Zimmer und dem Essen blieben mir 2000 Baht im Monat. Meine kleine Schwester brauchte Geld für die Schule, und mein Vater war krank geworden.„
Es ist in dieser Phase der Verzweiflung, in der viele Frauen zum ersten Mal mit alternativen Einkommensmöglichkeiten konfrontiert werden. Freundinnen erzählen von Jobs in Bars oder Massagesalons, wo das Geld deutlich besser sei. Der Übergang geschieht selten abrupt, sondern meist schrittweise.
Die Verlockung der Nachtarbeit
Die Unterhaltungsindustrie Thailands ist ein Milliardengeschäft, das eng mit dem Tourismus verknüpft ist. In Bangkok, Pattaya und Phuket reihen sich Hunderte von Bars, Clubs und Massagesalons aneinander. Für Außenstehende mag es wie eine glamouröse Welt aussehen – Neonlichter, Musik und scheinbar fröhliche junge Frauen.
Die Realität sieht anders aus. Die ersten Jobs in diesem Bereich sind oft noch relativ harmlos: Bedienung in Bars, Tänzerin oder Hostess. Doch die Grenzen verschwimmen schnell. Von den Frauen wird erwartet, dass sie Getränke verkaufen, mit Kunden flirten und diese zum Geldausgeben animieren. Der Sprung zur Prostitution ist dann oft nur noch ein kleiner Schritt.
Ploy, heute 32 Jahre alt, beschreibt ihre ersten Wochen in einer GoGo-Bar in Bangkok: „Am Anfang dachte ich, ich müsse nur tanzen und hübsch aussehen. Aber der Manager erklärte mir schnell, dass die wirklich guten Einnahmen anderswo lagen. Die anderen Mädchen verdienten in einer Nacht mehr, als ich in einem Monat in der Fabrik.„
Das System der Ausbeutung
Die GoGo-Bar-Industrie funktioniert nach klaren, aber oft unausgesprochenen Regeln. Die Bars zahlen den Frauen ein geringes Grundgehalt, oft nur 500 Baht pro Tag. Der Hauptverdienst kommt durch Provisionen von verkauften Getränken und „Bar-Fines“ – Gebühren, die Kunden zahlen, um eine Frau aus der Bar mitzunehmen.
Doch dieses System ist darauf ausgelegt, die Frauen in Abhängigkeit zu halten. Viele Bars verlangen hohe Kautionen oder leihen den Frauen Geld für Kleidung, Make-up oder Wohnungen. Diese Schulden müssen abgearbeitet werden, bevor die Frauen die Bar verlassen können.
Hinzu kommen die versteckten Kosten: teure Getränke, die die Frauen selbst konsumieren müssen, Strafen für Fehlzeiten oder „schlechte Leistung„, und die ständige Konkurrenz mit anderen Frauen. Viele entwickeln Alkohol- oder Drogenprobleme, um mit dem Stress und der psychischen Belastung umzugehen.
Die Suche nach dem Farang-Traum
Für viele Frauen in der GoGo-Bar-Szene ist die Hoffnung auf eine Beziehung mit einem westlichen Touristen – einem „Farang“ – der vermeintliche Ausweg aus ihrer Situation. Diese Beziehungen versprechen finanzielle Sicherheit und möglicherweise sogar ein Leben im Ausland.
Doch auch hier zeigt sich die Komplexität der Situation. Während einige wenige Frauen tatsächlich dauerhafte Partnerschaften eingehen, sind die meisten dieser Beziehungen von Anfang an ungleich. Die Männer suchen oft nur kurzfristige Gesellschaft, während die Frauen verzweifelt nach einer Zukunft suchen.
Malee, die fünf Jahre in Pattaya gearbeitet hat, erzählt: „Ich habe drei verschiedene Männer kennengelernt, die alle versprachen, mich zu heiraten und nach Europa mitzunehmen. Einer schickte mir sogar ein Jahr lang Geld. Aber am Ende kamen sie alle nur für den Urlaub zurück.„
Das Netz der Lügen
Was von außen betrachtet wie eine bewusste Entscheidung aussehen mag, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als ein komplexes Netz aus Zwang, Hoffnung und Selbsttäuschung. Die meisten Frauen in der GoGo-Bar-Szene führen ein Doppelleben. Zu Hause im Dorf erzählen sie von gut bezahlten Jobs in Hotels oder Restaurants. Die Familie darf nie die Wahrheit erfahren – zu groß wäre die Scham und der Gesichtsverlust.
Diese ständigen Lügen haben einen hohen psychischen Preis. Viele Frauen entwickeln Depressionen oder andere psychische Probleme. Der Druck, erfolgreich zu erscheinen, während sie innerlich leiden, ist immens. Gleichzeitig können sie nicht aus ihrem Umfeld ausbrechen, ohne ihre Familie zu enttäuschen oder ihre finanzielle Unterstützung zu verlieren.
Teufelskreis der Abhängigkeit
Das System hält sich selbst aufrecht durch eine Kombination aus finanzieller Abhängigkeit, sozialer Isolation und mangelnden Alternativen. Frauen, die Jahre in der Branche gearbeitet haben, finden es schwer, in normale Jobs zurückzukehren. Sie haben oft keine anerkannten Qualifikationen, und die Lücken in ihrem Lebenslauf sind schwer zu erklären.
Zudem ist der Einkommensverlust dramatisch. Eine Frau, die in einer GoGo-Bar 30.000 bis 50.000 Baht pro Monat verdient, müsste in einem normalen Job mit einem Zehntel davon auskommen. Für Familien, die sich an den höheren Lebensstandard gewöhnt haben, ist das oft nicht akzeptabel.
Alkohol und Drogen als Flucht
Der Konsum von Alkohol und Drogen ist in der GoGo-Bar-Szene weit verbreitet. Was oft als Teil der Arbeitsatmosphäre beginnt – Trinken mit Kunden gehört zum Job – entwickelt sich häufig zu einer Abhängigkeit. Methamphetamine, in Thailand als „Ya Ba“ bekannt, sind besonders verbreitet, da sie helfen, die langen Arbeitszeiten und die emotionale Belastung zu bewältigen.
Diese Substanzen verschärfen die Probleme nur noch. Suchterkrankungen führen zu weiteren Schulden, gesundheitlichen Problemen und erschweren den Ausstieg aus der Branche zusätzlich. Gleichzeitig nutzen Bar-Besitzer und Zuhälter diese Abhängigkeiten als weiteres Kontrollinstrument.
Internationale Dimensionen
Das Problem beschränkt sich nicht auf Thailand. Die GoGo-Bar-Industrie ist international vernetzt, mit Verbindungen zu Menschenhandel und organisierter Kriminalität. Frauen werden nicht nur innerhalb Thailands, sondern auch in andere südostasiatische Länder und sogar nach Europa oder Australien gebracht.
Diese internationale Dimension macht es noch schwieriger, das Problem anzugehen. Verschiedene Rechtssysteme, Korruption und die Tatsache, dass viele der beteiligten Frauen formal freiwillig handeln, erschweren Strafverfolgung und Hilfsmaßnahmen.
Versuche des Ausstiegs
Nicht alle Frauen bleiben für immer in der Branche gefangen. Es gibt durchaus Erfolgsgeschichten von Frauen, die den Ausstieg geschafft haben. Meist brauchen sie dabei Hilfe von außen – sei es durch NGOs, Familienangehörige oder Partner, die sie bei einem Neuanfang unterstützen.
Kanya, heute 35, arbeitet in einem Büro in Bangkok: „Es waren die härtesten zwei Jahre meines Lebens. Ich musste bei null anfangen, neue Fähigkeiten lernen und dabei noch meine Familie unterstützen. Aber es war möglich.“ Ihr Erfolg war jedoch nur möglich, weil eine internationale Hilfsorganisation ihr eine Ausbildung finanzierte und beim Übergang half.
Die Rolle der Gesellschaft
Die thailändische Gesellschaft hat ein ambivalentes Verhältnis zur Prostitution und zur GoGo-Bar-Industrie. Einerseits wird sie moralisch verurteilt, andererseits profitieren viele indirekt davon – vom Taxifahrer bis zum Hotelbesitzer. Diese Doppelmoral erschwert es, effektive Lösungsansätze zu entwickeln.
Hinzu kommt die Tatsache, dass die Industrie einen erheblichen wirtschaftlichen Faktor darstellt. Schätzungen zufolge fließen jährlich mehrere Milliarden Baht durch die Unterhaltungsindustrie – Geld, das direkt oder indirekt viele Menschen ernährt.
Hilfsorganisationen und ihre Grenzen
Verschiedene lokale und internationale Organisationen versuchen, den betroffenen Frauen zu helfen. Sie bieten Beratung, Ausbildungsprogramme und in einigen Fällen auch sichere Unterkünfte an. Doch ihre Ressourcen sind begrenzt, und die Zahl der Hilfesuchenden übersteigt bei weitem die verfügbaren Kapazitäten.
Zudem stoßen diese Organisationen oft auf Widerstand – nicht nur von den Betreibern der Bars, sondern manchmal auch von den Frauen selbst, die Angst vor Veränderungen haben oder nicht glauben, dass Alternativen existieren.
Rechtliche Situation und Strafverfolgung
Die rechtliche Situation in Thailand ist komplex. Prostitution ist offiziell illegal, wird aber weitgehend toleriert, solange sie nicht öffentlich stattfindet. Diese Grauzone führt dazu, dass Ausbeutung schwer zu verfolgen ist und die betroffenen Frauen wenig rechtlichen Schutz haben.
Korruption auf verschiedenen Ebenen erschwert die Situation zusätzlich. Polizisten, die eigentlich gegen illegale Aktivitäten vorgehen sollten, sind oft selbst in das System verstrickt oder werden von den Betreibern bezahlt, um wegzuschauen.
Psychologische Langzeitfolgen
Die psychischen Auswirkungen eines Lebens in der GoGo-Bar-Szene sind schwerwiegend und langanhaltend. Viele Frauen leiden unter Posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen und Angststörungen. Das Gefühl der Scham und des Selbstwertverlusts prägt oft ihr ganzes weiteres Leben.
Besonders schwerwiegend ist der Verlust des Vertrauens in zwischenmenschliche Beziehungen. Frauen, die jahrelang ihren Körper verkauft haben, finden es schwer, authentische emotionale Verbindungen aufzubauen. Dies betrifft nicht nur romantische Beziehungen, sondern auch die Beziehungen zu Familie und Freunden.
Generationenübergreifende Folgen
Das Problem beschränkt sich nicht auf die betroffenen Frauen selbst. Viele haben Kinder, die mit den Folgen leben müssen. Oft wachsen diese Kinder bei den Großeltern auf, während die Mutter in der Stadt arbeitet. Der unregelmäßige Kontakt und die Geheimnisse um die Art der Arbeit belasten auch die nächste Generation.
Besonders tragisch wird es, wenn Töchter den Weg ihrer Mütter einschlagen. Der Kreislauf der Armut und Ausbeutung setzt sich fort, obwohl das eigentlich verhindert werden sollte.
Wirtschaftliche Alternativen
Langfristige Lösungen müssen bei den wirtschaftlichen Wurzeln des Problems ansetzen. Die Entwicklung des Isaan und anderer armer Regionen Thailands ist entscheidend, um jungen Menschen Alternativen zu bieten. Investitionen in Bildung, Infrastruktur und nachhaltige Industrien könnten den Migrationsdruck verringern.
Gleichzeitig müssen in den Städten bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne für ungelernte Arbeiter geschaffen werden, damit legale Beschäftigung eine echte Alternative darstellt.
Internationale Verantwortung
Die internationale Gemeinschaft trägt ebenfalls Verantwortung. Sextourismus wird hauptsächlich von ausländischen Besuchern angetrieben, die die schwierige Situation der Frauen ausnutzen. Aufklärungs- und Präventionskampagnen in den Herkunftsländern der Touristen könnten die Nachfrage verringern.
Gleichzeitig könnten internationale Entwicklungshilfe und faire Handelspraktiken dazu beitragen, die wirtschaftlichen Bedingungen in Thailand zu verbessern und damit die Grundlagen für Ausbeutung zu verringern.
Ein Blick in die Zukunft
Die Zukunft der GoGo-Bar-Industrie in Thailand ist ungewiss. Einerseits führen gesellschaftlicher Wandel und wirtschaftliche Entwicklung dazu, dass junge Frauen mehr Alternativen haben. Die wachsende thailändische Mittelschicht bietet neue Arbeitsmöglichkeiten, und Bildungschancen verbessern sich langsam.
Andererseits sorgen neue Technologien und die Digitalisierung für neue Formen der Ausbeutung. Online-Plattformen und Social Media schaffen neue Wege, Kunden zu finden, aber auch neue Risiken für die beteiligten Frauen.
Die menschliche Dimension
Hinter all den Statistiken und Analysen stehen individuelle Schicksale. Jede Frau in der GoGo-Bar-Szene hat ihre eigene Geschichte, ihre Träume und ihre Kämpfe. Es sind nicht nur Opfer, sondern auch Menschen, die in schwierigen Umständen versuchen zu überleben und ihre Familien zu versorgen.
Diese menschliche Dimension darf bei allen Diskussionen über Politik und Lösungsansätze nicht vergessen werden. Jede Maßnahme muss darauf ausgerichtet sein, den betroffenen Frauen zu helfen, nicht sie weiter zu stigmatisieren oder ihre Situation zu verschlechtern.
Schlussbetrachtung
Die Geschichte der GoGo-Bar-Mädchen aus dem Isaan ist komplex und vielschichtig. Sie handelt von wirtschaftlicher Not und gesellschaftlichen Zwängen, aber auch von menschlicher Stärke und dem Überlebenswillen. Es ist eine Geschichte, die sich nicht einfach in Kategorien von Gut und Böse einteilen lässt.
Für Niran und Millionen andere junge Frauen in ähnlichen Situationen gibt es keine einfachen Lösungen. Der Weg aus der Armut ist schwierig, und die Verlockungen des schnellen Geldes sind groß. Doch ihre Geschichten zeigen auch, dass Veränderung möglich ist – wenn die richtigen Unterstützungssysteme vorhanden sind und die Gesellschaft bereit ist, sich den unbequemen Wahrheiten zu stellen.
Das wahre Ausmaß der Tragödie liegt nicht nur in der Ausbeutung selbst, sondern in der Tatsache, dass sie in einem System verwurzelt ist, das durch wirtschaftliche Ungleichheit, gesellschaftliche Normen und internationale Nachfrage aufrechterhalten wird. Nur durch ein umfassendes Verständnis aller beteiligten Faktoren können langfristige Lösungen entwickelt werden, die den Frauen wirklich helfen, anstatt sie weiter zu stigmatisieren.
Die Neonlichter von Bangkok, Pattaya und Phuket werden weiter leuchten, und die GoGo-Bars werden weiter Touristen anlocken. Doch hinter der glamourösen Fassade verbergen sich menschliche Tragödien, die unsere Aufmerksamkeit und unser Handeln verdienen. Nur wenn wir hinschauen und die unbequeme Wahrheit anerkennen, können wir beginnen, echte Veränderungen zu bewirken.




