Die Cybersklaven Südostasiens

Die Cybersklaven Südostasiens
Gemini AI

Ein Blick in die Abgründe der „Scam Factories“

Die globale Dimension der Cybersklaverei

In den Grenzregionen Südostasiens hat sich in den letzten Jahren eine der größten Formen moderner Sklaverei weltweit etabliert: die sogenannten Fraud Factories oder Scam Factories (Betrugsfabriken). Diese massiven Betrugszentren, die systematisch und koordiniert Online-Betrügereien durchführen, stellen eine tiefe humanitäre Krise dar. Die Opfer dieser Fabriken sind in zweierlei Hinsicht betroffen: zum einen die Zwangsarbeiter, die in die Compounds verschleppt wurden, und zum anderen die finanziell Geschädigten weltweit, denen das Ersparte abgenommen wird.

Was sind „Fraud Factories“ und „Scam Factories“?

Ein Fraud Factory, auch Fraud Park oder Scam Factory genannt, ist definiert als ein Gelände oder ein Apartmentblock, in dem diese organisierten Online-Betrügereien stattfinden. Das Phänomen hat sich seit der COVID-19-Pandemie stark beschleunigt. Kriminelle Netzwerke, von denen viele ihren Ursprung in China haben, verlagerten ihre Operationen aufgrund globaler Lockdowns und der schlechten Regulierung in der Region vom physischen Glücksspiel hin zum schnellen Wachstum des Cyber-Scammings.

Das erschreckende Ausmaß der modernen Sklaverei

Die Zahl der Zwangsarbeiter in diesen Fabriken ist erschreckend hoch: Schätzungen zufolge sind gut 220.000 Menschen aus über 100 Nationen weltweit in Fraud Factories zur Arbeit gezwungen. Allein die Vereinten Nationen (UN) schätzten, dass 2023 mindestens 100.000 Personen in Kambodscha und 120.000 Personen in Myanmar in solche Betrugszentren verschleppt wurden. Die Gesamtzahl der Opfer des Menschenhandels in der Region wird von einigen Organisationen sogar auf bis zu 300.000 geschätzt. Diese Betrugsfabriken wurden von UN-Sonderberichterstattern im Mai 2025 als „Menschenrechtskrise“ bezeichnet.

Die geografischen Hotspots Südostasiens

Die Betrugsfabriken sind hauptsächlich in Kambodscha, Laos und Myanmar zu finden. Sie liegen meist in Grenzgebieten zu Thailand und China. In Kambodscha befanden sich Standorte in Poipet und Sihanoukville, doch nach massiven behördlichen Maßnahmen in den letzten Jahren verlagerten viele Operationen ihren Sitz nach Myanmar. In Laos sollen sich Fraud Factories in der Golden Triangle Special Economic Zone befinden.

Die Rolle der Grenzregionen: Mae Sot und der Moei-Fluss

In Myanmar konzentrieren sich die Fraud Factories oft in Regionen, die nicht von der Zentralregierung kontrolliert werden. Bekannte Beispiele sind Shwe Kokko und der KK Park am Moei-Fluss [8, 10]. Die Stadt Mae Sot auf der thailändischen Seite des Flusses gilt als Dreh- und Angelpunkt der Fraud Factories. Die Kontrolle über diese Gebiete wird oft lokalen Milizen anvertraut, wie der myanmarischen Border Guard Force (BGF).

Anwerbung durch Täuschung: Das Versprechen des besseren Lebens

Die meisten Betroffenen werden online mit falschen Versprechungen angeworben. Den Opfern, die aus Ländern wie Äthiopien, Bangladesch oder Indonesien stammen, werden lukrative Jobs in Großstädten wie Bangkok (Thailand) in Aussicht gestellt. Indonesischen Opfern wurde beispielsweise versprochen, in einem Restaurant zu arbeiten. Das Ziel vieler Afrikaner ist es, ein besseres Leben zu führen, da ihr wirtschaftlicher Status in der Heimat schwierig ist.

Die Falle des illegalen Grenzübertritts

Nach ihrer Ankunft werden die Opfer am Flughafen abgeholt und per Minibus oder Taxi in grenznahe Städte wie Mae Sot gefahren, von wo aus ein illegaler Grenzübertritt nach Laos, Kambodscha oder Myanmar stattfindet. Dieser illegale Übertritt schafft ein Dilemma: Da die Ausreise illegal war, ist eine Wiedereinreise in ein Transitland wie Thailand oft nur schwer möglich. Gleichzeitig ist ihr Aufenthalt in Myanmar oder Laos ebenfalls illegal. Die kriminellen Syndikate nutzen dieses Dilemma aus, um die Personen zum Unterschreiben von Arbeitsverträgen und zur Zwangsarbeit zu zwingen.

Zwangsarbeit und die 16-Stunden-Schicht

Die Arbeitsbedingungen in den Fraud Factories sind unmenschlich; die Menschen werden wie Sklaven gehalten. Sie sind gezwungen, online Unschuldige zu betrügen oder zu erpressen. Die Cybersklaven müssen bis zu 16 oder sogar 18 Stunden am Tag Kontakt zu ihren Opfern über soziale Medien halten. Die Täter gaben den Arbeitern keinen Lohn und erlaubten ihnen nicht, ihre Familien zu kontaktieren.

Brutalität und Folter als Kontrollmechanismus

Die Betrugsfabriken sind oft wie Gefängnisse oder Kasernen aufgebaut und werden von bewaffneten Wachmannschaften bewacht. Wenn die gesetzten Quoten nicht erfüllt werden, drohen brutale Bestrafungen. Gerettete Arbeiter wie Joto aus Äthiopien berichteten von massiver Gewalt, einschließlich Schlägen, Demütigungen und Elektroschocks, die er jeden Tag erhielt, oft ohne besonderen Grund, da die Täter sie nur bestrafen wollten. Gerettete Betrugsarbeiter wiesen häufig blaue Flecken, Schnittwunden und Narben am ganzen Körper auf, was als Beleg der brutalen Bestrafung dient. In einigen Fällen wurden Mitarbeiter sogar getötet: In Kokang sollen mehrere Mitarbeiter der Crouching Tiger Villa erschossen worden sein, als sie versuchten zu fliehen.

Die Bedrohung durch Organentnahme

Der Druck, den die kriminellen Kartelle auf ihre Zwangsarbeiter ausüben, ist extrem. Berichten zufolge wurden indonesische Opfer sogar damit bedroht, dass ihnen die Organe entnommen würden, falls sie die von den Banden festgelegten Zielvorgaben nicht erfüllen könnten. Die Gründerin der Menschenrechtsorganisation Humanity Research Consultancy (HRC), Mina Chiang, betonte den dringenden Handlungsbedarf, um dieses grenzüberschreitend organisierte Verbrechen zu stoppen.

Der „Pig-Butchering-Scam“: Die psychologische Waffe

Die Betrugsmasche, die von den Zwangsarbeitern durchgeführt wird, wird von Ermittlern als „Trading-Scam“ bezeichnet, während die Täter selbst verächtlich von „Pig-Butchering“ (Schweineschlachten) sprechen. Bei dieser Methode nehmen die Betrüger über Dating-Plattformen oder soziale Medien Kontakt zu ihren Opfern auf und bauen zunächst eine emotionale Bindung oder ein Vertrauensverhältnis auf.

Die Mechanik des Online-Betrugs

Im Gegensatz zum klassischen „Love Scam“ täuschen die Täter beim Trading-Scam keine eigenen Geldprobleme vor. Stattdessen überreden die „Scammer“ ihre Opfer, in angeblich sichere Investitionsmöglichkeiten zu investieren, häufig in Kryptowährungen. Dies geschieht oft auf gefälschten Trading-Plattformen oder unter Verwendung geklonter Apps, die bekannten Anwendungen ähneln. Anfangs werden kleine Gewinne ausgeschüttet, um das Vertrauen zu stärken. Sobald das Opfer jedoch genügend Geld investiert hat, werden die Konten geschlossen, und das gesamte Geld ist verloren.

Der finanzielle Schaden: Milliarden für die Syndikate

Das Volumen dieser illegalen Geschäfte wird vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) auf 40 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt. Allein in einem Land der Mekong-Region sollen sich Verbrechersyndikate zwischen 7,5 und 12,5 Milliarden US-Dollar erschlichen haben. Der Schaden ist global: Allein bei der Zentralstelle Cybercrime Bayern (ZCB) wurde seit 2021 ein Gesamtschaden von etwa 29 Millionen Euro aus 370 angezeigten Fällen verzeichnet. Der durchschnittliche finanzielle Schaden pro Fall lag bei knapp 80.000 Euro.

Die Drahtzieher: Chinesische Triaden und die organisierte Kriminalität

Die Kontrolle über diese Betrugsfabriken liegt mehrheitlich bei chinesischen Triaden. Die Hinweise deuten darauf hin, dass es sich um ein Problem der organisierten Kriminalität handelt, wobei die Drahtzieher in der chinesischen Mafiastruktur zu finden sind. Es gibt sogar Hinweise, dass Personen aus Wirtschaft und Politik beteiligt sind. Ironischerweise sind viele der Opfer der Betrügereien selbst chinesische Bürger.

Lokale Machtstrukturen: Die Rolle der ethnischen Milizen (BGF/KNA)

Viele Fraud Factories in Myanmar befinden sich in Regionen, die von örtlichen Milizen kontrolliert werden. Beispielsweise wurden Shwe Kokko und KK Park von der myanmarischen Border Guard Force (BGF) kontrolliert. Diese ethnische Karen-Miliz erklärte sich bereit, an der Unterdrückung illegaler Aktivitäten beteiligt zu sein, obwohl Analysten anmerkten, dass sie zuvor den Betrügern Schutz gewährt hatte. Nach einem Militärputsch im Jahr 2021 liegt die Kontrolle in diesen Gebieten oft bei ethnischen Milizgruppen wie der Kayin National Army (KNA) oder der Democratic Kayin Buddhist Army (DKBA).

Politische Hürden und fehlender Wille zur Verantwortung

Obwohl es Razzien gibt, bleibt die Zerschlagung der Netzwerke schwierig, da oft der politische Wille fehlt. Es besteht der Verdacht, dass die betroffenen Länder selbst die Verantwortung nicht herstellen wollen, da bei einer umfassenden Aufklärung möglicherweise sehr hochrangige Personen dafür verantwortlich gemacht werden müssten. Dies betrifft auch die Rückführung geretteter Cybersklaven, die aufgrund bürokratischer und finanzieller Hürden lange dauern kann.

Chinas entschlossenes Vorgehen und grenzüberschreitende Kooperation

Angesichts der massiven Betroffenheit eigener Bürger hat die chinesische Regierung zuletzt verstärkt Druck ausgeübt. China, Myanmar und Thailand bekräftigten im Juli 2025 ihre Absicht, die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Telekommunikationsbetrugsverbrechen fortzusetzen. Das Ziel ist die vollständige Eliminierung der Syndikate in Myanmar. Dies wurde auf der zweiten Ministerkonferenz über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung dieser Kriminalität in Naypyidaw beschlossen.

Gezielte Razzien und beeindruckende Festnahmen

Die Polizeikräfte der drei Länder haben sich auf die Stärkung der Strafverfolgungskooperation geeinigt. Sie gehen koordiniert gegen Betrugsdelikte in Regionen wie Myawaddy vor. Seit Jahresbeginn wurden mehr als 5.400 chinesische Staatsangehörige festgenommen und in ihre Heimat zurückgeführt. Ein prominenter Fall war die Rettung der chinesischen Schauspielerin Wong Jing (auch Wang Xing genannt) im Februar 2025, die unter chinesischem Druck zu einer der größten Rettungsaktionen führte. Insgesamt meldeten chinesische Staatsmedien, dass im Jahr 2023 41.000 Personen im Zusammenhang mit Telekommunikationsbetrug in Myanmar an chinesische Behörden übergeben wurden.

Die Herausforderung der Infrastruktur-Disruption (Starlink-Lücke)

Die Behörden versuchten, die kriminellen Operationen zu stören, indem sie die Internet-, Treibstoff- und Stromversorgung in Myawaddy unterbrachen. Die thailändische Provincial Electricity Authority sperrte 2023 den Strom für mehrere Fraud Factories. Diese Maßnahmen führten zwar zu einigen Zerschlagungen und Rettungen, waren jedoch nicht nachhaltig. Berichten zufolge stellte der KK Park keinen einzigen Tag seinen Betrieb ein, da Starlink die Lücke sofort füllte, die durch die Abschaltung der thailändischen Telekommunikationsverbindungen entstanden war. Dies führte zu Kritik, das amerikanische Unternehmen ermögliche eine humanitäre Krise und eine nationale Sicherheitsbedrohung.

Militärische Operationen gegen Betrugszentren (KK Park, Kokang)

Die Bekämpfung der Betrugszentren erfolgte auch auf militärischer Ebene. Nachdem Versuche zur Unterbrechung der Versorgung scheiterten, bombardierte die Armee Myanmars im Oktober 2025 den Industriepark KK Park. Dadurch gelang über 7.000 Zwangsarbeitern die Flucht. Im Norden Myanmars übernahmen die Rebellengruppen der Three Brotherhood Alliance die Kontrolle über die Stadt Laukkaing, ein notorisches Zentrum für Online-Scamming. Die Rebellen erklärten, ihr Ziel sei es, Betrugszentren und deren „Schutzschirme“ auszurotten. Diese Operation führte zur Kontrolle der gesamten Kokang-Region. Die Militärregierung stürmte zudem im November 2025 einen Komplex in Shwe Kokko und nahm 350 ausländische Staatsbürger fest.

Die humanitäre Krise nach der Rettung: Die Reviktimisierung

Trotz der größten Rettungsaktionen, wie jener Ende Februar 2025, bei der über 7.000 Menschen befreit wurden, entsteht eine neue humanitäre Krise. Tausende befreiter ausländischer Arbeiter sitzen in behelfsmäßigen Lagern an der thailändischen Grenze fest. Viele Gerettete wurden erneut zum Opfer gemacht (revictimized). Sie werden in „Armeelagern oder umfunktionierten Scam Compounds“ unter der Kontrolle der Kayin Border Guard Force (KNA) festgehalten und erleben dort ähnliche Bedingungen wie in den Scam Centers, einschließlich Folter, Schlägen und unhygienischer Zustände. So mussten sich 800 Menschen 10 schmutzige Toiletten teilen.

Die psychischen und sozialen Folgen des Betrugs

Der Schaden dieser Betrugsmaschen ist nicht nur finanziell. Die psychischen Folgen für die Geschädigten sind dramatisch, darunter Depressionen und Angstzustände. Bayerns Justizminister Eisenreich warnte, dass zwei Geschädigte in den vergangenen Jahren aufgrund ihrer Verzweiflung Suizid begingen. Auch die befreiten Zwangsarbeiter leiden schwer; ihre Repatriierung verzögert sich aufgrund logistischer Probleme, Identitätsprüfung und fehlender finanzieller Unterstützung (wie 600 US-Dollar für ein Flugticket für äthiopische Bürger). Manche Gerettete wurden in ihren Heimatländern sogar mit Straftaten angeklagt.

Die Betrugsfabriken in Südostasien sind ein komplexes, multinationales Gebilde der Ausbeutung, das die Opfer nicht nur ihrer Freiheit und Würde beraubt, sondern auch finanzielle und psychische Verwüstungen über Unschuldige weltweit bringt. Sie operieren wie ein unheilvoller digitaler Sklavenmarkt: Die Ware sind die verschleppten Menschen, der Arbeitsplatz ist die Zelle, und das Produkt ist das zerstörte Leben der Betrogenen.

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