Ich lebe nun seit über sechs Jahren in Thailand und habe in dieser Zeit vieles gesehen, manches verstanden – und einiges immer noch nicht. Geboren wurde ich 1953 in Kassel, bin also heute 72 Jahre alt. Nach einem langen Berufsleben als Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte – im Dienst des Landes Hessen – trat ich 2018 in den wohlverdienten Ruhestand ein. Bereits ein Jahr darauf zog es mich hierher in den Isaan, wo ich heute mit meiner thailändischen Ehefrau, einer warmherzigen Frau Anfang fünfzig, ein bescheidenes, aber zufriedenes Leben führe.
Was mich anfangs so faszinierte, war die Leichtigkeit des Alltags. Keine Hektik, keine überbordende Bürokratie wie in Deutschland, wo man schon für den Antrag zur Lehrerfortbildung drei Unterschriften und vier Formulare brauchte. Hier schien vieles unbürokratisch, wenn auch nicht unbedingt logisch. „Mai pen rai“ – macht nichts – ist ein Satz, den ich sehr früh lernte. Er ist Philosophie und Ausrede zugleich. Ich empfand das Leben als befreiend. Kein Sitzen in Konferenzen, kein Korrigieren am Wochenende. Stattdessen Sonnenaufgänge über den Reisfeldern, freundliche Menschen, und das Gefühl, nochmal ganz von vorn anfangen zu dürfen – nur eben mit grauen Haaren.
Ich lernte meine Frau ein gutes Jahr nach meiner Ankunft kennen – keine Bardame, keine Schlepperromantik, wie sie manche Expat-Geschichten prägen, sondern eine alleinerziehende Frau, die in einer kleinen Apotheke arbeitete und mit beiden Beinen im Leben stand. Anfangs war vieles neu. Ihre Vorstellungen von familiärer Verantwortung, von Kommunikation, von Nähe – all das war mir fremd und faszinierend zugleich. Ich habe nie geglaubt, dass kulturelle Unterschiede durch Liebe verschwinden. Aber ich habe gelernt, dass man über sie lachen kann. Wenn sie mir etwa zum Frühstück gebratenen Fisch hinstellt, während ich nach einem Käsebrot lechze. Oder wenn sie bei Streitigkeiten einfach schweigt – was für einen Lehrer mit Rededrang die Höchststrafe ist. Heute – sechs Jahre später – haben wir uns eingespielt. Es ist keine Ehe, wie ich sie aus Deutschland kannte. Sie ist pragmatischer, aber auch wärmer. Weniger intellektuell, aber emotional tiefer. Und ich habe gelernt, dass Worte oft weniger zählen als Gesten.
Als Beamter war ich ein Leben lang Teil eines Apparats, der Regeln achtete, auch wenn sie manchmal absurd erschienen. In Thailand habe ich eine Bürokratie erlebt, die mir bis heute rätselhaft ist. Da wird zum Beispiel für die Verlängerung des Führerscheins plötzlich ein ärztliches Attest verlangt. Was sich auf den ersten Blick vernünftig anhört, entpuppt sich schnell als bürokratische Farce: Man geht zum Arzt, zahlt die Gebühr, und erhält das Zertifikat, ohne dass der Arzt wirklich überprüft, ob man gesundheitlich überhaupt tauglich ist. Es ist mehr eine Formalität, eine Stempelübung, als eine ernsthafte Untersuchung. So lernt man schnell, dass manche Vorschriften hier weniger auf Sicherheit als auf Papierkram ausgelegt sind. Oder man braucht für die Verlängerung des Visums eine Bestätigung, dass man verheiratet ist – obwohl man dieselbe Bestätigung bereits letztes Jahr eingereicht hat. Kopien, Stempel, Passfotos – man gewöhnt sich daran. Und man lernt: Nicht jedes System ist schlechter, nur weil es anders ist.
Als Pensionär wird man ja nicht jünger – und so habe ich die medizinische Versorgung inzwischen gründlich kennengelernt. Die privaten Kliniken in Udon Thani sind ordentlich, sauber, freundlich – aber kurz angebunden. Die Ärzte sprechen oft gutes Englisch, doch Zeit ist knapp. Ich bin privatversichert, was mir manche Tür öffnet. Ein Bekannter, ebenfalls ehemaliger Lehrer, hatte diese Absicherung nicht. Er verließ sich auf seine Gesundheit – bis sie ihn verließ. Er starb an einem Herzinfarkt, weil er zu lange zögerte, ins Krankenhaus zu gehen. Thailand ist kein Land für sorglose Pensionäre. Es ist ein Land für vorbereitete, angepasste und lernfähige Menschen. Wer sich auf seine deutsche Lebensweise verlässt, erlebt hier oft schmerzliche Überraschungen.
Manchmal schäme ich mich, ein Deutscher zu sein – dann nämlich, wenn ich andere Farangs höre, die sich lautstark über „die Thais“ beschweren. Sie erwarten Pünktlichkeit, Logik, Korrektheit – aber liefern selbst weder Respekt noch Anpassung. Besonders in Touristenzentren wie Pattaya oder Phuket ist der Ruf der Langzeit-Ausländer – besonders der deutschen – nicht der beste. Viele leben isoliert, manche mit deutlich jüngeren Frauen, die eher Pflegerin als Partnerin sind. Es ist ein trauriges Bild, das mit dem Traum vom „neuen Leben in der Sonne“ nicht viel gemein hat. Ich versuche, mich davon abzugrenzen – durch Sprache, durch Verhalten, durch Haltung. Ich bin Gast hier. Und wer Gast ist, sollte sich benehmen.
Thailand ist nicht mehr das Billigparadies der 1990er-Jahre. Wer heute im Isaan eine neue Klimaanlage kauft, zahlt nicht weniger als in Europa. Lebensmittelpreise steigen, Stromkosten sind nicht zu unterschätzen, und westliche Produkte – von Käse bis zum Schinken – kosten hier oft das Doppelte. Gleichzeitig verändert sich das Land. Die junge Generation ist digital, schnell und oft westlich geprägt. Die Tempel sind leerer geworden, die Straßen voller. Ich spüre eine gewisse Entfremdung – auch unter Thais. Manchmal denke ich, dass ich nicht nur Deutschland verlassen habe, sondern auch einem Thailand nachtrauere, das es so vielleicht gar nicht mehr gibt.
Und doch sitze ich oft abends vor unserem kleinen Haus, trinke einen Rotwein, höre die Grillen zirpen und denke: Ich habe Glück gehabt. Ich habe einen neuen Lebensabschnitt gefunden, der nicht immer einfach, aber stets lebendig war. Ich habe meine Frau, meine Schwiegereltern, einen kleinen Freundeskreis. Ich habe Abstand gewonnen – zu Deutschland, zu alten Gewohnheiten, zu mir selbst. Thailand ist nicht perfekt. Aber es ist echt. Und es hat mir erlaubt, in Würde älter zu werden – fernab vom deutschen Nörgelklima, vom Besserwissertum und vom Gefühl, im Ruhestand nur noch geduldet zu sein. Hier bin ich nicht mehr Lehrer – sondern Mensch.
Mit freundlichen Grüßen
Horst M. S.
Udon Thani, im Mai 2025