Zeit, der hässlichen Wahrheit über den tief sitzenden Konflikt zwischen Thailand und Kambodscha ins Auge zu blicken
Mehr als nur ein Familienstreit
Viel wurde bereits darüber geschrieben, wie der fünftägige, nicht erklärte Krieg zwischen Thailand und Kambodscha aus einem hässlichen Streit zwischen zwei sehr mächtigen Familien hervorging: der Familie Shinawatra in Thailand und der Familie Hun in Kambodscha. Vielleicht wurde sogar zu viel hineininterpretiert. Zu viel wurde diesen beiden egozentrischen, aber äußerst einflussreichen Familien zugeschrieben – dem brisanten durchgesickerten Telefonat zwischen dem kambodschanischen Senatspräsidenten Hun Sen und Thailands Premierministerin Paetongtarn Shinawatra, sowie sogar den Callcenter-Betrügereien und Casinos in Kambodscha.
Ja, der wütende Austausch von Schmähungen zwischen den beiden Familien hat sicherlich zu diesem sinnlosen Krieg beigetragen, der Dutzende von Menschen das Leben kostete – kambodschanische und thailändische Soldaten ebenso wie Zivilisten beider Nachbarländer. (Und die meisten von ihnen waren arm und unschuldig.) Doch das Ausmaß des gegenseitigen Hasses und der Feindseligkeit, das tief in einer selektiven Geschichtsvermittlung und -wahrnehmung der Beziehungen zwischen Thailand und Kambodscha sowie in der gegenseitigen Stereotypisierung verwurzelt ist, sorgte dafür, dass sich der Konflikt von einem Streit zwischen zwei Familien oder zwei Regierungen auf die Bevölkerung beider Länder ausweitete.
Ich behaupte: Viele Thais und Kambodschaner wären nicht in ultranationalistischen Wahn verfallen, wenn es nicht zwei entscheidende Elemente gegeben hätte: zwei völlig unterschiedliche Versionen der Erinnerung an die gemeinsame Geschichte – und die Stereotypisierung des jeweils anderen, die über Jahrzehnte, wenn nicht noch länger, gewachsen ist.
Die thailändische Perspektive
Lassen Sie mich mit der thailändischen Seite beginnen, denn ich bin Thai.
Drei Schlüsselbegriffe prägen das Bild vieler ultranationalistischer Thais von Kambodscha und den Kambodschanern: unzuverlässig, undankbar und Nachahmer.
Viele ultranationalistische Thais misstrauen den Kambodschanern vollständig, da sie einer nationalistischen historischen Erzählung glauben, in der ein kambodschanischer König – der König von Lovek – König Naresuan verraten haben soll. Dies geschah trotz eines bestehenden Bündnisses, als Ayutthaya Kambodscha um Hilfe bei der Abwehr burmesischer Invasoren bat. Während Ayutthaya also im Westen gegen die Burmesen kämpfte, griff der „hinterlistige“ König von Lovek im Osten an.
Der thailändische König ging schließlich als Sieger hervor, indem er 1594 einen Strafangriff auf Lovek – damals die Hauptstadt Kambodschas – führte und diese eroberte. König Naresuan von Ayutthaya ließ den König von Lovek in einem demütigenden Ritual enthaupten und wusch sich zur Vergeltung für die wiederholten „kambodschanischen Übergriffe“ mit dessen Blut die Füße – dem Körperteil, der sowohl in Thailand als auch in Kambodscha als der niedrigste gilt.
Diese prägende, bittere Episode der Geschichte, die thailändischen Schülern vermittelt wird, sitzt so tief, dass der ultranationalistische Protestführer Sondhi Limthongkul wenige Wochen vor dem Krieg erklärte, Hun Sen und die Kambodschaner hätten denselben DNA-Code wie dieser „verräterische“ König von Lovek – und seien daher grundsätzlich nicht vertrauenswürdig.
Noch gestern äußerten einige ultranationalistische Thais ihren Wunsch, die thailändischen Streitkräfte sollten Phnom Penh ein für alle Mal einnehmen, anstatt einem Waffenstillstand zuzustimmen.
Die kambodschanische Version der Geschichte
(Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die kambodschanische Seite eine völlig andere Version dieser historischen Episode lehrt. Der kambodschanischen Darstellung zufolge war es der thailändische König, der dem kambodschanischen König nicht genügend Respekt erwies, ihn nicht als gleichwertig behandelte und sich insgesamt als Aggressor aufführte. Die thailändischen – damals siamesischen – Truppen zerstörten die damalige Hauptstadt Lovek, plünderten die Stadt, entwendeten wertvolle Statuen und raubten okkultes Wissen. Aus dieser Sicht war es also Thailand, das Kambodscha verriet und dessen Hauptstadt zerstörte, was die kambodschanische Bevölkerung zwang, weiter ostwärts zu ziehen, um sich vor weiteren thailändischen Angriffen zu schützen.)
Das Tragische daran ist, dass beide Nationen ihre unterschiedlichen Interpretationen und selektiven Lektüren eines über 400 Jahre zurückliegenden historischen Ereignisses nutzen, um ihr Bild vom jeweils anderen zu formen. Der Geschichtsunterricht wurde als Werkzeug zur Nationenbildung benutzt – um nationale Interessen zu fördern, das Volk zu vereinen (und zu manipulieren) und eine ultranationalistische Ideologie im Sinne der herrschenden Klasse zu verankern.
„Undankbare“ Flüchtlinge und kulturelle Aneignung
Ein weiteres tief verwurzeltes Stereotyp besagt, dass Kambodschaner undankbar seien – insbesondere in den Augen ultranationalistischer Thais. Diese Vorstellung flammte im aktuellen Konflikt erneut auf. Sie beruht auf der selektiven Erinnerung an die späten 1970er-Jahre, als entlang der thailändisch-kambodschanischen Grenze Flüchtlingslager eingerichtet wurden. Diese dienten der Aufnahme von Kambodschanern, die vor der vietnamesischen Invasion 1978 flohen. In der Hochphase 1980 suchten dort bis zu 160.000 kambodschanische Flüchtlinge Schutz, während viele gut ausgebildete junge Thais für internationale NGOs in diesen Camps arbeiteten.
(Hinweis: Die kambodschanische Seite betont, dass diese Lager hauptsächlich durch die UNO, das Internationale Rote Kreuz und zahlreiche andere Organisationen finanziert wurden. Thailands Beitrag bestand weniger in finanzieller Unterstützung, sondern vielmehr darin, Land und Sicherheit bereitzustellen. Das Land nutzte die Lager vor allem als strategischen Puffer, um militärische Auseinandersetzungen zwischen Kambodscha und Vietnam von seinem eigenen Staatsgebiet fernzuhalten.)
Dann gibt es die weit verbreitete Überzeugung vieler Thais, dass Kambodschaner thailändische Kultur kopieren, aneignen und „schamlos“ behaupten, viele kulturelle Elemente seien ursprünglich kambodschanisch. Dies betrifft Architektur, traditionelle Kleidung, das Songkran-Fest oder auch Muay Thai – den thailändischen Nationalsport. Manche Thais nennen Kambodscha deshalb spöttisch „Claimbodia“.
(Hinweis: Kambodschaner empfinden es umgekehrt – sie glauben, die Thais hätten sich ihre Kultur zu eigen gemacht. Ihrer Ansicht nach stammen viele Elemente der thailändischen Kultur ursprünglich aus dem Khmer-Reich, insbesondere nach der Eroberung Loveks durch Ayutthaya. Sie bezeichnen Thailand daher als „LieLand“ und benutzen den Ausdruck „Don’t Thai me“, was so viel bedeutet wie: „Belüg mich nicht.“)
Kun Khmer vs. Muay Thai – zwei Kampfkünste, ein Konflikt
In der Frage, welche Nation welche Kampfkunst kopiert hat, meldete sich am späten Samstagabend – kurz nach Ende des fünftägigen Krieges – der bekannte brasilianische Boxer Thiago Teixeira zu Wort. Er lebt heute als kambodschanischer Staatsbürger und setzt sich für die traditionelle Kampfkunst „Kun Khmer“ ein. In einem Facebook-Post schrieb er:
„Im Jahr 2023 benannte Kambodscha seinen nationalen Kickbox-Stil in ‚Kun Khmer‘ um.
Thailand war nicht begeistert.
Nationalisten nannten es Diebstahl.
Muay Thai sei zuerst da gewesen. Kambodscha kopiere nur.
Aber lasst uns kurz innehalten.
In Angkor Wat gibt es jahrhundertealte Reliefs, die Boxer im Clinch zeigen – lange bevor das Wort ‚Muay Thai‘ existierte.
Beide Traditionen teilen Techniken, Rituale, sogar spirituelle Elemente.
Die Wahrheit? Diese Kampfkünste stammen nicht nur aus einem Land.
Sie entwickelten sich gemeinsam – über Grenzen hinweg, durch Kriege, durch Migration.
Thailand machte Muay Thai zur Weltmarke.
Kambodscha, gezeichnet vom Krieg, versucht seine kulturellen Wurzeln zurückzuerobern.
Es geht nicht darum, wer zuerst war.
Es geht darum, anzuerkennen, dass Stolz nicht Ursprung auslöschen muss.
2024 einigten sich beide Länder stillschweigend:
- Kun Khmer und Muay Thai werden als separate Disziplinen anerkannt.
- Kein Wettkampf nötig. Beide können wachsen.
Aber im Internet ging der Krieg weiter.
Videos, Memes, Beleidigungen – Millionen von Klicks.
Kultur wurde wieder zum Schlachtfeld.“
Der Blick in kambodschanische Schulbücher – mithilfe von KI
Anstatt meine kambodschanischen Kontakte zu fragen, wie sie in der Schule über die historische Beziehung zu Thailand unterrichtet wurden und wie das ihre Sicht auf Thais beeinflusst hat, habe ich die Hilfe einer KI in Anspruch genommen – in dem Glauben, dass sie nicht vom Nationalismus und Ultranationalismus durchdrungen ist, der derzeit Millionen von Thais und Kambodschanern befallen hat.
Die Antwort von Gemini kam innerhalb von Sekunden – und verdient es, vollständig zitiert zu werden:
„Kambodschanische Geschichtsbücher stellen die Beziehung zu Thailand im Allgemeinen als komplex und oft konfliktgeladen dar. Zentrale Themen:
- Der Niedergang des Khmer-Reiches: Lehrbücher bringen den schrittweisen Verfall des Angkor-Reichs mit dem Aufstieg benachbarter Völker in Verbindung – etwa der Gründung des Sukhothai-Königreichs als Abspaltung vom Khmer-Reich – sowie mit der Eroberung Angkor Thoms durch Ayutthaya im Jahr 1431, was die Hauptstadt nach Süden verdrängte.
- Territorialverlust und Souveränität: Zentral ist die schrittweise Auslöschung kambodschanischer Gebiete durch mächtigere Nachbarn wie Siam und Vietnam. Kambodscha wurde faktisch zum Vasallenstaat – dieser Verlust prägt bis heute die nationale Identität.
- Kolonialzeit und Nachwirkungen: Der französische Schutz wird als notwendig dargestellt, um Kambodscha vor völliger Annexion zu bewahren. Der Streit um den Preah-Vihear-Tempel ist dabei zentral. Die Besetzung durch Thailand nach dem Rückzug Frankreichs und das Urteil des Internationalen Gerichtshofs von 1962 werden ausführlich behandelt.
- Kulturelle Aneignung und nationale Identität: Die Beziehung wird auch als kultureller Wettbewerb inszeniert. Die Khmer-Herkunft thailändischer Kultur wird betont, thailändische Aneignung kritisiert. Daraus entsteht ein starker Schutzinstinkt gegenüber dem eigenen Erbe.“
Mein Fazit: Zwei Völker, eine Geschichte – zwei Wahrheiten
Wie jeder faire Beobachter nun erkennen kann, sind viele Thais und Kambodschaner von selektiver Erinnerung und stereotypen Feindbildern geprägt. Deshalb ist dieser Konflikt längst mehr als ein politisches Ränkespiel zwischen Hun Sen, Hun Manet und der Familie Shinawatra.
Er eskalierte, weil die ultranationalistische Geschichtsschreibung über Jahrzehnte – wenn nicht Jahrhunderte – von den Eliten beider Länder systematisch genutzt wurde, um die Bevölkerung gegeneinander aufzuhetzen.
Geschichte ist immer selektiv, oft voreingenommen. Wir können nicht alles erinnern – und was wir erinnern, hängt davon ab, wer wir sind. Das darf aber keine Rechtfertigung für Hass und Krieg sein. Vielmehr sollten Thais und Kambodschaner erkennen, dass der wahre Brandherd nicht in zwei Familien liegt – sondern im kollektiv gelehrten Misstrauen.
Thailand und Kambodscha haben so vieles gemeinsam. Und doch schauen wir aufeinander herab, vertrauen einander nicht, verachten einander. Aus Nachbarn mit gemeinsamer Grenze wurde ein Feindbild.
Wir könnten es besser machen – wenn wir die Geschichte nicht nur nacherzählen, sondern endlich anfangen, sie gemeinsam zu verstehen.
Hinweis der Redaktion:
Khaosod english
Diese Kolumne wurde ursprünglich von Pravit Rojanaphruk auf KhaoSod English veröffentlicht. Die deutsche Fassung ist eine sorgfältige, stilistisch überarbeitete Übersetzung, die darauf abzielt, den Inhalt für ein deutschsprachiges Publikum lesbar und verständlich zu machen – ohne die Aussagen oder Positionen des Originalautors zu verändern. Alle inhaltlichen Bewertungen stammen von Pravit Rojanaphruk.



