Grenze, Stolz, Krieg – Kambodscha vs. Thailand

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Der Tod als Startschuss einer alten Geschichte

Eine Kolumne von Sebastian Kronberg

Ein einziger Schuss. Ein Toter. Und ein uralter Konflikt, der aus dem Schatten der Geschichte zurück ins grelle Licht der Gegenwart stolpert. Der kambodschanische Soldat, gefallen in einem umstrittenen Grenzgebiet, wurde nicht nur Opfer eines territorialen Zwists – er wurde auch zum Symbol. Für nationale Ehre, verletzten Stolz und das ewig brodelnde Unbehagen zwischen Kambodscha und Thailand.

Hun Manet, frisch im Amt, Sohn einer Legende, agiert wie ein Staatsmann, der weiß, dass jetzt mehr als nur Disziplin gefragt ist. Er ruft zur internationalen Schlichtung auf, zum Dialog vor Gericht. Zum Beweis, dass Kambodscha kein Vasallenstaat, sondern eine souveräne Nation ist. Eine Inszenierung? Vielleicht. Aber eine, die funktioniert – zumindest innenpolitisch.

Gleichzeitig steht da Thailand, das wie ein trotziges Kind die Arme verschränkt und ruft: „Wir machen da nicht mit!“ Keine ICJ-Zuständigkeit, kein Dialog, kein internationales Schiedsverfahren. Die Bühne ist bereitet – und beide Länder liefern eine politische Tragödie, deren Drehbuch niemand je wirklich neu schreibt, sondern nur aktualisiert.

Nationalstolz – zwischen Identität und Ideologie

Stolz ist ein zweischneidiges Schwert, vor allem in Südostasien. In Kambodscha heißt Stolz: sich behaupten, nach Jahrzehnten des Kolonialismus, Genozids und der Fremdbestimmung. Der kleine Nachbar im Osten versucht, seine Identität über rechtliche Legitimation zu definieren – über Dokumente, über internationale Gremien. Eine Art „Papier-Souveränität“.

Thailand hingegen spielt das Spiel der Macht – ohne Spielregeln. Wer den ICJ ablehnt, lehnt nicht nur Recht ab, sondern auch Verantwortung. Es ist der Versuch, Souveränität durch die Verweigerung von Regeln zu demonstrieren. Eine Form politischer Autonomie, die mehr mit Trotz als mit Strategie zu tun hat.

Doch was ist dieser Nationalstolz wirklich wert, wenn er zum Brandbeschleuniger wird? Wenn er über den Köpfen der Menschen hinweg als politisches Werkzeug missbraucht wird? Die Antwort ist bitter: Wenig. Denn Stolz, der auf Abgrenzung statt auf Gemeinsamkeit setzt, führt selten in die Zukunft. Er führt meist in den nächsten Schützengraben.

Politik als Pyrotechnik – zündeln am Pulverfass

Wenn Geschichte zur Fiktion wird, wird Politik zur Pyrotechnik. Und genau das passiert gerade zwischen Phnom Penh und Bangkok. Hun Manet will mit der Joint Boundary Commission reden, Thailand lehnt ab. Statt Gespräch – Gebrüll. Statt Argumente – Armee. Beide Seiten führen das klassische Narrativ auf: „Wir haben Recht, das andere Land lügt.“

Diese Selbstgerechtigkeit ist brandgefährlich. Denn sie schürt Misstrauen, nicht nur zwischen Regierungen, sondern auch zwischen Bevölkerungen. Der Feind wird nicht diskutiert – er wird behauptet. Der Konflikt wird nicht gelöst – er wird symbolisch inszeniert, um innenpolitisch zu punkten. Patriotismus als Ablenkungsmanöver.

Das Problem ist: Grenzen sind nicht nur Linien auf der Karte. Sie sind emotionale Schlachtfelder. Wer daran rüttelt, spielt mit dem Feuer. Und wenn man den ICJ zu einem politischen Instrument degradiert, dann bleibt vom Recht nur noch die Rhetorik. Und die brennt, wenn man sie nicht löscht.

Geschichte als Waffe – und niemand legt sie nieder

Wer den Streit verstehen will, muss zurückblicken. Nach Chong Bok, ins Emerald Triangle, zur ICJ-Entscheidung von 1962. Dort liegt der Beginn des heutigen Dramas. In alten Karten, Kolonialakten und politischen Mythen, die beide Seiten wie sakrale Texte behandeln. Die Geschichte wird zum politischen Joker – aber sie ist kein Richter.

Hun Sen hat diese Karten lange gespielt. Hun Manet tut es nun auch. Alte Grenzverträge werden neu aufgeladen, als wären sie frisch verhandelt. Als wären sie mehr als symbolisches Gepäck. Thailand dagegen fühlt sich als Verlierer einer ungerechten Weltordnung – die ICJ-Entscheidung von damals sei eine nationale Demütigung gewesen.

Doch Geschichte ist kein Schiedsrichter. Sie ist eine Perspektive. Sie dient der Legitimation, aber nicht der Lösung. Wer heute Konflikte mit alten Dokumenten bestreiten will, sollte sich fragen, ob er das Morgen überhaupt will – oder nur ein schöneres Gestern. In diesem Spiel verlieren am Ende beide Seiten – aber zuerst die Bevölkerung.

Gerichtshof als Theater – Bühne oder Lösung?

Der Internationale Gerichtshof – für viele der letzte Ausweg, für andere nur ein weiterer Akt im geopolitischen Theaterstück. Hun Manet klammert sich daran wie an einen Rettungsring, während Thailand das Ganze als kambodschanisches Spektakel abtut. Kamnoon Sidhisamarn, Ex-Senator und rechter Lautsprecher, nennt es eine „Ablenkung“. Für wen? Wovor?

Für Kambodscha ist der ICJ mehr als nur Jurisdiktion. Er ist Bühne, Bühne der Gerechtigkeit, Bühne der Weltöffentlichkeit. Doch wie glaubwürdig ist eine Strategie, die zwar international wirkt, aber innenpolitisch eskaliert? Wer das Gericht ruft, muss auch zuhören können. Nicht nur reden, sondern verhandeln.

Thailand hingegen hat Angst. Nicht vor dem Urteil, sondern vor dem Eingeständnis, dass internationale Normen auch für Bangkok gelten. Die Ablehnung des ICJ ist kein Akt der Stärke – sie ist ein Zeichen von Unsicherheit. Doch genau diese Unsicherheit könnte das einzige sein, was beiden Seiten gemeinsam ist.

Und jetzt? Der Preis der Entscheidung

Am Ende geht es um zwei Wege: Dialog oder Konfrontation. Hun Manet hat seinen Schritt gemacht – mit der Einladung an die JBC. Thailand zögert. Vielleicht, weil es nicht verlieren will. Vielleicht, weil es gar nicht weiß, was es gewinnen könnte. In dieser Pattsituation liegt der Keim des nächsten Zusammenstoßes.

Doch ein Konflikt zwischen diesen beiden Ländern wäre mehr als nur ein regionales Desaster. Er wäre ein Fanal für eine ganze Region, die ohnehin schon zwischen Rivalitäten, Ressentiments und Rückschritten taumelt. ASEAN schaut zu – hilflos, wie so oft. Die Welt auch, mit höflicher Besorgnis und wenig Einsatz.

Was bleibt, ist die Hoffnung auf Mut. Nicht auf heroischen, martialischen Mut, sondern auf zivilen, stillen Mut. Den Mut, zu reden, bevor geschossen wird. Den Mut, Recht zu akzeptieren, auch wenn es unbequem ist. Und den Mut, endlich den alten Konflikt zu beenden, der längst niemandem mehr nützt – außer den Populisten.

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